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Auschwitz-Prozess Neubrandenburg

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Der letzte Zug von Westerbork nach Auschwitz


In der Zeit vom 15. August bis 14. September 1944, in der Hubert Zafke in Auschwitz Dienst tat, trafen mindestens 14 Deportationszüge im Lager ein. In einem der Transporte aus den besetzten Niederlanden waren Anne Frank, Mirjam Katz und Ursula Lippers mit ihren Familien. Die drei jungen Mädchen überlebten den Holocaust nicht, ihre Familien wurden nahezu ausgelöscht.

Anne Frank: „Der englische Sender spricht von Vergasungen“

Das Tagebuch von Anne Frank, geschrieben im Untergrund, wurde weltberühmt und in 70 Sprachen übersetzt. Auf der Flucht vor den Nazis kam die junge Autorin, geboren am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main, mit ihrer Familie in die Niederlande. In Amsterdam bauten sie sich ein neues Leben auf. Doch Krieg und Verfolgung holten sie ein. Anne und ihre Schwester Margot starben in Bergen-Belsen, ihre Mutter Edith Frank in Auschwitz. Otto Frank, Annes Vater, überlebte und kehrte zurück nach Amsterdam. Aus dem Tagebuch seiner Tochter erfuhr er von ihrem Wunsch, Schriftstellerin zu sein. Im Sommer 1947 erschienen ihre Aufzeichnungen erstmals unter dem Titel „Het Achterhuis“. Anne Frank wurde zu einer Symbolfigur. Ihr Schicksal steht für das von Millionen Menschen, die im Nationalsozialismus als Juden verfolgt und ermordet wurden.

Die Nachricht, dass Anne Frank in Auschwitz ankam, während Hubert Zafke dort SS-Sanitäter war, machte weltweit Schlagzeilen: „Anne Frank orderly’s trial begins for complicity in murder“, titelte der britische Independent; „Anne Frank war eines der Opfer“, hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Der Telegraaf aus den Niederlanden nannte das Verfahren den „ersten Auschwitz-Prozess über die Deportation und die Ermordung der Familie von Anne Frank“. Die Verfolgung der Familie Frank wird allerdings kaum Gegenstand des Verfahrens sein, da diese nicht durch den in der Anklageschrift zugrunde gelegten Tatvorwurf und Tatzeitraum erfasst wird. Angeklagt ist Hubert Zafke wegen Beihilfe zum Mord in 3.861 Fällen. Als Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel soll er zwischen dem 15. August und 14. September 1944 den systematischen Massenmord in Auschwitz unterstützt haben.

Der Prozess gegen Zafke sollte am 29. Februar 2016 in Neubrandenburg beginnen. Vor dem Landgericht machte das Internationale Auschwitz Komitee mit einem Plakat-Aufsteller auf den Prozess aufmerksam – es zeigte ein Foto von Anne Frank und ein Zitat aus ihrem Tagebuch: „Der englische Sender spricht von Vergasungen [...]. Ich bin völlig durcheinander.“ Der Eintrag stammt vom 9. Oktober 1942, bereits drei Monate lebte die Familie Frank zusammen mit der Familie van Pels im Versteck, ein Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht. Im November 1942 tauchte dort auch Fritz Pfeffer unter, ein Freund der Familie. Mit ihm musste sich Anne Frank ein kleines Zimmer teilen. Am 1. August 1944 schrieb sie zum letzten Mal in ihr Tagebuch. Nach zwei Jahren im Versteck wurden die acht Untergetauchten verhaftet. Am 8. August wurden sie in das Durchgangslager Westerbork gebracht und am 3. September 1944 nach Auschwitz deportiert. Wer sie verraten hat, wurde nie geklärt.

Lenie de Jong van Naarden: „Es war einfach ein Todeszug“

In dem Deportationszug aus Westerbork waren 1.019 Juden: 498 Männer, 442 Frauen und 79 Kinder. In jeden Waggon wurden etwa 70 Menschen gepfercht. Aufgrund der Enge mussten die meisten stehen. Lenie de Jong van Naarden war auch in dem Zug – sie hat überlebt und erinnerte sich später: „Sehr viele, auch die Frank-Mädchen, schliefen an den Vater oder die Mutter gelehnt, jeder war todmüde.“ Die Fahrt war beschwerlich: Mal fuhr der Zug langsam, mal schnell. Nur ein Eimer diente als „Toilette“. Auch Janny Brandes-Brilleslijper, die sich mit Anne und Margot Frank anfreundete, erinnerte sich an den Transport: „Wir standen dicht aneinandergedrückt. In den Waggons gab es große Ritzen und zwei Gitter mit einem dicken Rost davor, durch die Luft hereinkam. Stand man zufällig an so einem Luftloch, wurde man zwar weniger von dem Gestank belästigt, aber man konnte sich erkälten, weil es so zog.“

Nicht alle überlebten die beschwerliche Fahrt von Westerbork nach Auschwitz: „Nach zwei Tagen sind wir erschöpft, hier stirbt ein Mann, dort wird eine alte Frau ohnmächtig, weinende Kinder, es ist kaum noch auszuhalten", erinnerte sich die Auschwitz-Überlebende Rosa de Winter-Levy. Am 5. September kam der Güterzug in Auschwitz-Birkenau an. An der Rampe wurden die Männer und Frauen getrennt. Kinder, Alte und Kranke wurden unmittelbar ermordet. Die acht Untergetauchten aus dem Hinterhaus wurden alle in Baracken aufgeteilt. Anne Frank war drei Monate zuvor 15 Jahre alt geworden und entging so dem direkten Tod. Viele der Gefangenen – darunter alle Kinder unter 15 Jahren – kamen direkt in die Gaskammern.

Mirjam Katz wurde nur sieben Jahre alt

Die 7-jährige Mirjam Lisette Katz war eines der Kinder, die am 6. September 1944 in Auschwitz ermordet wurden. Vor dem Krieg lebte sie mit ihren Eltern, Margarethe (geb. Meyer) und Erich Katz, in Essen. Mirjam wurde am 30. April 1937 in der Stadt an der Ruhr geboren. Als das Kind ein Jahr alt war, ging die Familie in die Niederlande. Sie wohnten in Amsterdam-Zuid in der Noorder Amstellaan. Im gleichen Haus wohnte Ursula Cohen, die Anne Frank in ihrem Tagebuch erwähnt. In der Nachbarschaft wohnten viele deutsche Juden. Die Familie Frank wohnte in einer Nebenstraße, am Merwedeplein, bis sie am 6. Juli 1942 untertauchen musste. Margot Frank, damals 16 Jahre alt, hatte einen Aufruf erhalten. Sie sollte sich zum Transport in ein Arbeitslager nach Deutschland melden. Anne Frank schrieb in ihr Tagebuch: „Ich erschrak entsetzlich. Ein Aufruf! Jeder weiß, was das bedeutet. Konzentrationslager und einsame Zellen sah ich vor mir auftauchen.“

Die Familie Katz war zunächst vor der Verhaftung und Deportation geschützt. Der Kaufmann Erich Katz war im Metallhandel tätig. Daher war er für die deutsche Rüstungsindustrie von Bedeutung. Im Juni 1943 schrieb Michael Sommer, den man beauftragt hatte, hochwertige Metalle für die Wehrmacht zu beschaffen, an den Generalkommissar und SS-Gruppenführer Hanns Rauter. Er bat ihn darum, mehreren jüdischen Metallhändlern, die für ihn gearbeitet hatten, die Ausreise zu ermöglichen. In dem Schreiben wurden elf jüdische Familien benannt, darunter Familie Katz. Im Zuge der letzten großen Razzia wurde die Familie am 29. September 1943 verhaftet. Ein Jahr später kam die Familie von Kamp Westerbork nach Auschwitz. Mirjam und ihre Mutter wurden unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Margarethe Katz war damals 29 Jahre alt. Auch Erich Katz hat nicht überlebt. Er starb im März 1945 im Alter von 42 Jahren.

Ursula Gerson – versteckt und verraten, wie Anne Frank

Ursula Gerson, geboren am 18. Juni 1936 in Münster, wurde im Alter von acht Jahren in Auschwitz ermordet. Ihre Mutter Julia Gerson (geb. Lippers) starb mit 33 Jahren in Auschwitz. Ihr Vater Ernst Gerson kehrte allein in die Niederlande zurück, wo die Familie zuletzt gelebt hatte. Vor der Flucht aus Deutschland lebten sie in Nottuln, im Haus der Großeltern Martha (geb. Stehberg) und Isidor Lippers. Auch Hugo Lippers, der Bruder von Isidor, und Erich Stehberg, der Bruder von Martha, lebten in dem Haus. Die Familie Lippers war eine alteingesessene jüdische Kaufmannsfamilie, die seit dem 17. Jahrhundert das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben im Ort mitprägte. Isidor Lippers hatte das Manufaktur- und Galanteriewaren-Geschäft am Kirchplatz von seinem Vater übernommen. Zwar gelang es, das Haus vertraglich abzusichern und so vor einer Beschlagnahmung zu bewahren. Für die Familie wurde es aufgrund antisemitischer Anfeindungen aber immer gefährlicher in Nottuln.

Der Vater von Ursula Gerson hatte schon im März 1933 Probleme mit der Polizei, weil er eine Hakenkreuzfahne vom Kranz an einer Kapelle entfernt haben soll. Später wurde elf Tage in „Schutzhaft“ genommen. Während der Novemberpogrome wurde ihr Großonkel Erich Stehberg inhaftiert und das Haus der Familie verwüstet. Als Männer aus dem Ort das Geschäft demolierten und vor ihren Augen die Fensterscheiben einschlugen, war Ursula keine drei Jahre alt. Bei ihrer Tante Bertha in den Niederlanden suchten Isidor, Martha und Hugo Lippers im Januar 1939 Schutz. Sie hatte 1931 den Fabrikanten Siegfried de Groot geheiratet und lebte mit ihm und ihren zwei Kindern, Dietrich und Clara, in der Stadt Zwolle.

Ernst Gerson konnte schon im Mai 1938 in die Niederlande fliehen. Mutter und Tochter wurden zunächst an der Ausreise gehindert. Am 1. Juni 1939 erreichten sie Hattem, eine kleine Gemeinde bei Zwolle, wo die Familie nun wohnte. Um der Deportation zu entgehen, gingen die Familien Lippers und Gerson im September 1942 in den Untergrund. Sie fanden Unterschlupf auf dem Landgut Molocaten. Vergeblich wurde nach ihnen gefahndet. Anfang September 1944 wurden sie jedoch verraten und verhaftet. Sie kamen mit demselben Transport nach Auschwitz wie die Familie Frank. Es war der letzte Zug, der Westerbork in Richtung Auschwitz verlassen hat.
Anne Frank
Anne Frank in der Montessori-Schule in Amsterdam (1940).
Foto: Unbekannt, Collectie Anne Frank Stichting


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Schild am Zug von Westerbork nach Auschwitz.
Schild am Zug von Westerbork nach Auschwitz.
Foto: Rudolf Breslauer, Nationaal Archief NL


Mirjam Lisette Katz
Mirjam Lisette Katz
Foto: Joods Digitaal Monument / privé collectie


Ursula Gerson
Ursula Gerson
Foto: Heemkunde Hattem


Ursula mit ihren Eltern Julia und Ernst Gerson
Ursula mit ihren Eltern Julia und Ernst Gerson
Foto: Heemkunde Hattem